Der Kunst die Phantasie zurückgeben – Interview mit Matrix

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Der Kunst die Phantasie zurückgeben – Interview mit Matrix

Angerer der Ältere ist Architekt, Kunstmaler und Bildhauer. Für seinen Freund Michael Ende stattete er den Film „Die unendliche Geschichte II“ künstlerisch aus und gestaltete die Titelbilder für Wolfgang Hohlbeins Romane. Sein eigenes Märchen „Ein verlorener Traum“, hat er selber mit wunderschönen Bildern illustriert. Vor seinem Haus steht die von ihm erbaute Erlöserkapelle, ein christliches Gesamtkunstwerk aus Architektur, Bildhauerei und Malerei, zu dem Papst Benedikt XVI noch als Joseph Kardinal Ratzinger ein Grußwort zur feierlichen ökumenischen Einweihungsfeier schrieb.

 Matrix3000:In Ihrem illustrierten Märchen „Ein verlorener Traum“ geht es um das Zwillingspaar Janus und Sunaj (zusammen genommen ein Palindrom, d.h. ein Wort, das von vorn und hinten gleich heisst). Janus ist der Verstandesmensch, Sunaj die kreative Träumerin, vielleicht könnte man auch sagen, sie sind Kopf und Herz. Geht es nicht für jeden Menschen darum, diese beiden Teile zu vereinen und zur Zusammenarbeit zu bewegen?

Genau das geschieht mit Janus. Um Sunaj, seine Schwester zu retten, muss er zu einem mitfühlsamen, phantasievollen Menschen werden. Der Retter rettet sich selbst. Es ist bezeichnend für unsere erkaltete, rein rationalistische Zeit, dass, wird von geistiger Elite gesprochen, der reine Verstandesmensch der freudlosen Skepsis gemeint ist. „Intelligenz“ hingegen beinhaltet Verstand und Intuition. Der „Intelligente“ ist also der wohltemperierte umfassende Mensch.

Sie selber scheinen für sich einen Weg gefunden zu haben, diese beiden Seiten des Menschseins in Ihrem Leben auszudrücken. Sie sind Architekt und Künstler. Können Sie etwas über den Prozess erzählen, der Sie dahin geführt hat?

Ich habe von Kindheit an gemalt und konnte mit 18 Jahren bereits Rembrandt kopieren, aber ich wollte nie Künstler werden. So kam ich über den Umweg eines zwei-semestrigen Elektroingenieur-Studiums dann zum Architekturstudium. Sehr schnell erkannte ich die nicht besonders geachtete Position des modernen Künstlers. Und das zurecht, denn die meisten sind schrecklich unintelligent. Zur Schaffung jener Kunst, die ich bevorzuge, ist die oben beschriebene Intelligenz nötig. Ich meine auch, ein Architekt sollte Künstler sein, heute ist er zum Koordinierer von Bausystemen degradiert. Es ist das unkreative Erbe des heute hoch gelobten „Bauhauses“.

In der Geschichte von Janus und Sunaj ist es ja so, dass Janus seine entführte Schwester sucht und schliesslich nach vielen Abenteuern findet und vor den Muschelwesen rettet. Sunaj bleibt in alledem ziemlich passiv. Finden Sie, dass es in unserer Welt wieder mehr Empfänglichkeit und Weiblichkeit bräuchte?

Frauen verfügen, so glaube ich, über mehr Wissen aus der Intuition. Bei der so genannten „Powerfrau“, die auf verhängnisvollste Weise dem Mann nacheifert und ihn möglicherweise „übertrumpfen“ will, sind diese Fähigkeiten – ich nenne es einmal Urwissen – verschüttet. Sunaj greift nicht direkt als „Handelnde“ ins Geschehen ein, löst es aber aus. Damit erhält sie gewissermaßen eine Überinstanz.

Apropos Weiblichkeit: Es heisst, hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau. Trifft das auch auf Sie zu?

Sie sagen es. Meine Frau und ich geben, so glaube ich, in dieser Hinsicht eine gute Symbiose ab. Aufgrund meiner Begabung habe ich das Glück, den befriedigenderen Part der Kreativität ausfüllen zu können, während meine Frau all die unangenehmen Aufgaben wie Finanzen, Administration und Management übernommen hat. Dafür danke ich ihr und Gott, dass er sie mir gegeben hat.

 Für welchen Teil unserer Lebenswelt stehen die vermeintlich bösen Muschelwesen im Märchen? Offensichtlich richten sie ja vor allem deshalb so viel Unheil an, weil sie sich von ihrem angestammten Medium, dem Wasser (der Gefühlswelt?), immer weiter entfernen?

Richtig: Was sagte die Elfe Wind zu Janus: „ Sie leben im falschen Element, das macht sie böse und unsicher. Sie sollten zurück ins Wasser gehen, dort ist ihre Heimat.“ Übrigens, das Element Wasser ist eben unsere Urheimat. Ich kann stundenlang in die Brandung des Meeres schauen. Doch „das wirklich Böse als Inkarnation“ ist der Wille, über andere Menschen Macht ausüben zu wollen, sie beherrschen zu können. Dies ist der Ursprung des Übels aller Kriege, allen Unglücks.

 Sie engagieren sich stark für die Rückeroberung der Phantasie. So sind Sie unter anderem Gründungsmitglied des „Zentrums für Phantastische Künste“. Leidet unsere Gesellschaft unter Phantasiemangel?

Hier hat mich mein Freund Michael Ende geprägt. Verlieren wir Kreativität und Phantasie, steht am Ende die Vertotung des Menschen. Alle vergangenen Kulturen zeigen in ihrer Verfallsphase zunächst das Sterben des Mythos und der Kunst, alles wird erlaubt und zu guter letzt stirbt auch der Reichtum. Goethe bezeichnet das Ende, das sich nach der Spätkultur (19.Jahrhundert) ankündigt, als „reine Zivilisation“, die, so Hölderlin, der Poet besser verschlafen sollte.

Wie arbeiten Sie konkret? Was inspiriert Sie? Wie entwickelt sich eine Idee zum fertigen Bild? Wie verläuft der kreative Prozess bei Ihnen selber ab?

„Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“, heißt es, und so ergeht es mir. Meine Ideen sind aus dem Unterbewussten herübergerettete Träume. Ich notiere oder skizziere sie sofort, oft noch in der Nacht, auf. Bei meinen ausgiebigen täglichen Spaziergängen durchdenke ich meine kreativen Absichten und forme sie vor meinem geistigen Auge. Im Atelier weiß ich dann was zu tun ist.

Sie sagten einmal, Phantasie sei eine Tochter der Freiheit. Können Sie das etwas ausführen?

Von allen gesellschaftlichen Gütern ist die Freiheit wohl das wichtigste Gut, alle Kreaturen eingeschlossen. Ohne geistige Freiheit kann sich keine Phantasie entwickeln. Heute ist unsere Freiheit insbesondere durch die Manipulationsmöglichkeiten der Massenmedien bedroht. Der Betroffene spürt die Unfreiheit nicht, er glaubt sich frei. Dies ist das Ende, denn er kann nichts „Eigenständiges“ mehr fassen.

Ihre Gemälde sind nicht nur phantastisch, sie haben auch eine mystische, seelenvolle Aura. Welches ist Ihr spiritueller oder weltanschaulicher Hintergrund? Sind Sie ein gläubiger Mensch?

Vor kurzem habe ich zum ersten Mal den „Isenheimer Altar“ von Grünewald in Colmar gesehen. Hier war der Künstler das nobelste Werkzeug Gottes. Vielleicht ist dieser Altar das bedeutendste Kunstwerk, jedenfalls für mich. Diese wie Sie sagen mystische, seelenvolle Aura ist hier im „Sterben und der Auferstehung Christi“ das bewegendste, was ich je erlebt habe.

Ich hoffe, in meiner Erlöserkapelle ähnliches erreichen zu können. Alle dort aus Marmor geformten Menschen streben zum Licht, zum gekreuzigten Erlöser. In einer schrägen, zum Himmel gewandten Lichtröhre mit ihrer farbigen Glaskuppel am Ende, hoffe ich, dem kosmischen Allmächtigen auf unserer armen, leidgeprüften Erde einen würdigen Raum zu geben. Ich hoffe auch, dass in allen meinen Bildern die Sehnsucht nach Befreiung von unserer allzu irdischen Welt sichtbar ist.

Sie entwickeln zurzeit das Konzept einer „Schule des Sehens“, insbesondere für Kinder. Was möchten Sie den jungen Menschen vor allem beibringen? Haben wir Menschen wirklich unseren „Traum verloren“?

Nicht alle, aber viele haben „ihren Traum verloren“. Diese Burg in meinem Buch ist ja ein VW/Audi Getriebe. Ist es nicht die schönste Burg, die Sie je gesehen haben? Die Welt nicht nur in unserer aufgesetzten Realität zu betrachten, sondern ihren Geheimnissen auf die Spur zu kommen, ist die „Schule des Sehens“. Das erfordert aber Zeit, Ruhe und Entspanntheit – eben Freiheit, und die ist Mangelware in unserer flotten Zeit.

 Das Interview führte Simone K. Koller

 „Ein verlorener Traum“ von Angerer dem Älteren erschien 2003 im Verlag Zeitenwende in Dresden

Interview, September 2003

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